WEIT DRAUSSEN GANZ NAH
Das Handy klemmte zwischen ihrem Ohr und ihrer Schulter. Dies gelang Lore nur, weil sie die linke Hand mit dem Block in die Höhe hielt, und mit der rechten schrieb. Der Anruf hatte sie in ihrer Tätigkeit erreicht, ansonsten würde sie diese Verrenkung sein lassen. Ihre Arbeit nahm sie genau, besonders dann, wenn eine Exaktheit der Zeiteinhaltung gefordert war.
Im Augenwinkel bemerkte sie das Näherkommen eines Mannes, der schließlich neben ihr stehen blieb. Wie eine vibrierende Spannung drang seine Ungeduld zu ihr vor. Vor Wochen in einer ähnlichen Situation, hatte ihr ein Mann das Handy fast aus der Hand gerissen, und sie angefahren, was ihr einfalle, ihn einfach zu ignorieren. Trotzdem koordinierte sie nun das Ausfüllen des kleinen Formulars so, dass sie ihre Unterschrift setzte bevor sie das Gespräch beendet hatte. Sie vermied den Blick zu dem Mann neben ihr, schob den ausgefüllten Strafzettel in ein Plastikkuvert und klemmte ihn zwischen Scheibenwischer und Windschutzscheibe. Der Mann zog ihn gleich wieder heraus und fragte, ob sie ihn nicht vergessen könne. Langsam, um ihn nicht ansehen zu müssen, steckte sie ihren Kugelschreiber in die Brusttasche der Uniformjacke. Ich glaube, das liegt ganz bei Ihnen, setzte der Mann fort, nachdem sie nicht auf seine Frage reagiert hatte. Sie verstaute den Strafblock in der Gürteltasche und sah dabei auf die Motorhaube. Der Mann wirkte nicht unfreundlich, aber sie dachte nur, dass sie hart bleiben müsste, es war ihre Aufgabe hart zu bleiben, sich auf keinen Handel einzulassen. Bei einem kostenlosen Kurzparkschein habe ich Null Toleranz, sagte sie und blickte dabei noch immer auf die Motorhaube. Sie wusste, dass sie die Wahl gehabt hatte. Der Mann schaute auf seine Uhr. Wir reden hier über drei Minuten, sagte er, und sein nun doch harscher Ton war nicht zu überhören. Sie konnte hier nicht länger herumstehen, sie musste weg, weil sie mit solchen Situationen überhaupt nicht umgehen konnte. Sie sollte dem Mann in die Augen sehen, und sagen, dass es das Gesetz einfach so vorsieht. Aber das brachte sie nicht fertig, also ging sie etwas unentschlossen an dem Auto des Mannes entlang, und dabei hörte sie seine Worte: Ja dann, herzlichen Dank. Ich wünsche Ihnen noch einen wunderschönen Tag! Und dieser Gruß, diese Art Verabschiedung irritierte sie noch mehr. In Wahrheit wünschte ihr dieser Mann den Tod oder zumindest ein gebrochenes Bein. Jetzt quetschte sie sich zwischen zwei eng parkenden Autos durch, querte die schmale Straße und spürte, wie sehr sie aus der Fassung geraten war, weil ihr unklar war, in welcher Richtung sie weiter kontrollieren musste. Sie hörte ihn jetzt aus der Parklücke fahren und in der Art des Gasgebens manifestierte sich die Wut des Mannes.
Null Toleranz. Warum hatte sie das gesagt? Nie drückt sie sich so aus. Zügig fuhr der Wagen an ihr vorbei, und sie wusste, dass der Fahrer sie dabei ansah. Es war sein Fehler, sagte sie sich, wenn er die fünfzehn Minuten nicht einhält.
Als Lore bei der Querstraße angekommen war, bemerkte sie, dass sie keinen Wagen mehr kontrolliert hatte. Sie drehte sich um. Noch einmal zurück wollte sie nicht. Sie dachte an die noch abzugehende Route und hatte das Gefühl einer unerträglichen Last. Sie sah auf die Uhr: bald Mittag. Severin hatte bald aus. Er wird aus der Schule kommen, sich noch mit ein paar Freunden unterhalten, dann in die Straßenbahn steigen und nach etlichen Stationen in die S-Bahn wechseln. Zu Hause wird er sich ein Spiegelei braten oder, wenn er guter Dinge war, sich Spaghetti kochen und bei schlechter Laune Wurstblätter ohne Brot hinunterschlingen. Wenn sie am Abend nicht zu müde war, kochte sie für sie beide eine Kleinigkeit.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon an der Kreuzung stand. Diese Nebenstraßen kamen ihr jetzt ungewöhnlich still vor. Nur in einiger Entfernung querte ein Wagen die Straße. Dann kam ihr der Gedanke, der sie retten würde, der sie erlösen würde von diesem Zustand der ins Stocken geratenen Normalität.
Sie wird in der Zentrale anrufen und sich krankmelden. Sie fühle sich seit dem Morgen nicht wohl, wird sie sagen, und nun habe sie sicher Fieber, sie wird nach Hause gehen, vielleicht ließe sich das Schlimmste noch verhindern.
Auf dem Weg zur Schule kamen Lore bereits Schülerinnen entgegen. Sie freute sich, sie würden gemeinsam nach Hause fahren, sie würde kochen und sie würden zusammen Mittag essen. Von weitem sah sie Severin in einer kleinen Gruppe vor dem Eingang der Schule. Sie wusste, dass es manchmal Momente gab, in denen man sich aus einem unerklärlichen Grund umwendet, weil jemand unerwartet kommt, den man kennt. Und jetzt war es genauso. Severin drehte sich um und sah direkt zu ihr, obwohl sie bestimmt noch fünfzig Meter von ihm entfernt war. Sein Erstaunen war nicht zu übersehen. Sogar seine Freunde bemerkten es und sahen in ihre Richtung. Rasch wandte sich Severin ab, aber einer der Freunde schien ihn mit einer Kopfbewegung zu ihr herüber daraufhin anzusprechen. Nach Severins Körperhaltung zu schließen, tat er gleichgültig und unwissend. Darauf verließ er die Gruppe und versuchte mit raschem Schritt seiner nahenden Mutter zu entkommen. Doch am Ende des Vorplatzes trafen sie aufeinander. Als würde er sie nicht sehen, ging er einfach weiter.
– Severin! rief sie.
Er hielt nicht inne, wollte bloß von der Schule weg. Ohne sich zu ihr umzudrehen, ließ er seiner Wut freien Lauf.
– Wie kannst du hier in dieser Kluft auftauchen?! Bist du bescheuert?!
– Spinnst du! Das ist genau so ein Job wie jeder anderer.
– Ja, wenn man nichts anderes mehr kriegt.
Sie spürte einen tiefen Schmerz in ihrem Inneren, nicht nur weil ihr Sohn so mit ihr sprach, sondern weil er die Wahrheit damit ausdrückte.
– Soll ich lieber tatenlos zu Hause hocken?
– Dann würde dich wenigstens nicht die halbe Menschheit hassen und für dumm halten.
So sah er das also, einen unwürdigen Job, mit dem man anderen nur Ärger bereitete.
Sie musste fast laufen, um einigermaßen mit ihm Schritt zu halten.
Die Straßenbahnstation war nur mehr einige Meter entfernt, als Severin loslief und in die offene Tür des Zuges sprang.
Sie beeilte sich nicht, wollte nicht in die Straßenbahn einsteigen. Von ihrem Sohn keine Beachtung zu bekommen, würde sie jetzt nicht ertragen. Als sie die Haltestelle erreichte, schlossen sich die Schiebetüren und der Zug fuhr ab. Hinter dem dunklen Glas sah sie ihn stehen, abgewandt blickte er nach draußen.
Lore setzte sich auf die Wartebank. Die digitale Anzeige zeigte 6 Minuten bis zur nächsten Bahn. Aber nach Hause wollte sie nun auch nicht mehr. Ihr gegenüber standen riesige Plakatwände mit Werbung für Dessous. Junge, schöne Gesichter, makellose Körper. Wie man sich da selbst zurückgelassen fühlt, irgendwie wie das Schlusslicht in der Reihe, dachte Lore.
Amelia sah sicherlich etwas besser aus als sie, aber vor allem hatte sie mehr Anmut. Du bist so grob, hatte ihre Schwester oft zu ihr gesagt, und eigentlich wusste sie nie, was sie damit genau gemeint hatte.
Warum kam ihr jetzt Amelia in den Sinn? Du hast einen freien Nachmittag vor dir und schon meldet sich dein Gewissen?
Der letzte Besuch war bereits eine Weile her. Aber musste es heute sein?
Jedes Mal erfasste sie auf dem Weg zu ihr eine Anspannung, sie hatte es bis heute nicht geschafft, mit dieser Realität zurecht zu kommen. Vielleicht würde sie es nie können, und vielleicht sollte sie diesen inneren Wunsch einfach aufgeben. Und wenn sie jetzt nicht zu ihr ging, würde sie sich wieder einige Tage lang Vorwürfe machen. Noch dazu war kaum ein Umweg nötig. Sie musste mit der Straßenbahn, die sie gerade kommen sah, nur zwei Stationen fahren.
Als sie das Gebäude betrat, umfing sie sofort dieser Geruch. Er glich allen Einrichtungen dieser Art. Eine überwärmte Luft mit einem Gemisch aus Großküche und Desinfektionsmitteln.
Vor der Zimmertür hielt Lore jedes Mal inne, stellte sich den Raum dahinter vor und dachte, oder hoffte vielmehr, dass es dieses Mal etwas anders sein würde, dass sich etwas verändert hatte, verändert haben musste, natürlich zum Guten hin. Aber das Zimmer war dann doch von der gleichen leblosen Stimmung erfüllt, als hätte sich darin etwas Ungreifbares für immer eingenistet. Und jedes Mal sagte sie sich, dass sie öfter kommen sollte, um nicht immer dieser inneren Spannung ausgeliefert zu sein, und damit dieses Ungreifbare zu einer annehmbaren Realität werden konnte.
All diese Zimmer sahen immer gleich aus. Dass ein paar Quadratmeter dem Leben, dem Lesen, dem Essen, dem Schlafen und noch anderen Tätigkeiten dienen sollten, beinhaltete bereits die ganze Absurdität. Diesen Räumen fehlte jede Gemütlichkeit, obwohl man sich darum bemühte. Vielmehr waren sie abweisend. Krankheit und Hoffnungslosigkeit waren allem eingeschrieben. Orte, die das Gefühl des Endgültigen ausstrahlten.
Und inmitten all dieser Zurückweisung, dem Fenster zugewandt, saß Amelia in dem großen Lehnsessel, der diese Frau von Mitte Vierzig zu einer Greisin machte.
Lore schloss die Tür, ging zu ihrer Schwester hinüber, begab sich in die Hocke, um sie nicht zu sehr zu erschrecken, da ihr Gehör seit damals gelitten hatte, oder die Aufmerksamkeit gegenüber Geräuschen nicht mehr vorhanden war.
– Hallo Amelia, sagte sie und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Amelia sah sie zwar an, aber wen sah sie? Niemand wusste das.
Lore zog ihren Gürtel mit ihren Arbeitsgeräten ab. Dabei spürte sie wieder dieses Gewicht, dass sie den ganzen Tag mit sich herumtrug.
Die Tafel Schokolade, die sie unten im Laden gekauft hatte, legte sie auf den kleinen Tisch. Die bitterste Schokolade, die sie finden konnte. Amelia hatte sie immer geliebt und seit damals war es ein unentwegter Versuch, dass der Geschmack sie vielleicht wieder zurückholen würde aus dieser unendlichen Tiefe.
Seit vielen Jahren begleitete Lore die Angst, das Gleiche könnte ihr passieren, dass in ihrem Kopf genauso unerwartet ein Gefäß platzen und ihren Geist in ewige Dunkelheit tauchen würde.
Sie zog den Sessel zu sich heran und setzte sich neben ihre Schwester, um mit ihr aus dem Fenster zu blicken. Davor die Baumkronen des kleinen Parks der Anstalt, dahinter der Wohnblock mit seiner monotonen Fassade.
Nur wenn sie hier neben ihrer Schwester saß, begann sie selbst genauer zu beobachten, wurde sie aufmerksamer auf die Äste der Bäume, auf deren Blätter, zog sich ihr Blick nach hinten zu den Fenstern des Hauses, als wäre im immer Gleichen eine ständige Veränderung wahrzunehmen. Zwischen den Ästen hindurch sah sie eine Frau rauchend am Balkon stehen, die dabei nach unten blickte. Sie rauchte in Ruhe, in einer fast berührenden Gelassenheit. Als sie fertig war, drückte sie den Stummel in einer kleinen Schale aus. Sie blickte hoch zum Himmel, einen stillen Moment lang, dann ging sie zurück in das Zimmer.
Lore fragte sich oft, wie ihre Schwester die Welt um sich herum empfand, ob sie das Treiben vor ihrer Tür, vor ihrem Fenster, dort weit draußen, überhaupt noch etwas anging. Diese Überlegungen machten sie traurig, weil sie damit ihrer Schwester jede Gefühlsregung absprach. Wenn sie zu einem Spaziergang geführt wurde, kleidete man sie an, weil sie es selbst nicht zu Wege brachte. Sicherlich würde sie sonst die Kälte des Winters empfinden. Aber wahrscheinlich wusste sie nicht mehr, wie sich davor schützen.
Manche Tage waren anders. Da war Aufmerksamkeit in ihrem Blick. Dann rückte sie den Stuhl näher an ihre Schwester heran, beugte sich zu ihr vor, ging nahe an ihr Gesicht und nannte sie bei ihrem Namen und ein Lächeln erschien auf diesem abwesenden Gesicht. Aber es war ein Lächeln ohne Erkennen, ohne Erinnerung. Es war wohl nur der Klang ihrer oder einfach nur einer Stimme, der in der Tiefe ihres Inneren etwas wachrief, das aber nicht zur Oberfläche ihres Denkens dringen konnte.
Vielleicht war sie glücklicher, zufriedener, weil es das Wollen in ihr nicht mehr gab. Aber was half ihr diese Zufriedenheit, wenn sie sie nicht empfinden konnte?
Machte es denn Sinn darüber nachzudenken? fragte sich Lore. Es war an ihr loszulassen.
– Ich komme gleich wieder, sagte sie.
Der Kaffeebecher fiel in die Halterung. Das Geräusch des Automaten drang an ihr Ohr.
Sie brauchte immer diese Pause, musste kurz Abstand gewinnen. Sie konnte sich nicht vorstellen, den Zustand Amelias als eine andere Art von Normalität in ihr Leben zu integrieren. Dann fielen ihr die harschen Worte Severins ein. Nein, sagte sie sich, sie war kein dummer Mensch.
Als sie wieder zurückgekommen war, erzählte sie Amelia von der Begegnung mit dem Mann und vom Ausbruchs Severins. Und dann stellte sie sich vor, dass Amelia ihr wirklich zugehört hatte, und wenn es auch keine besondere Geschichte war, würde davon doch irgendetwas in ihr berührt werden. Es musste einfach so sein. Was hätte sonst noch einen Sinn?
Und dann wurde es in Lores Innerem etwas leichter.
Sie betrachtete das Bett, immer ordentlich gemacht, mit einer braunen Tagesdecke geschützt. Darüber einige gerahmte Bilder von gezeichneten Landschaften und Fotografien. Die Fotos von ihr mit Amelia, Severin, den Eltern und noch ein Bild. Sie musste näher gehen, denn sie war sich nicht sicher. Ja, es war Gregor. Gutaussehend, Mitte vierzig. Als sie alle noch ein unbeschwertes Leben führten, beneidete sie ihre Schwester um diesen Mann. Dass das Bild von Gregor hier immer noch hing? Warum hatte es damals niemand entfernt? Gregor hatte ein halbes Jahr nach dem schrecklichen Ereignis durchgehalten. Dann war er gegangen. Wie wütend sie in dieser Zeit auf ihn war. Später konnte sie ihn allmählich verstehen.
Sie spürte Amelia hinter sich. Sie war lautlos nähergekommen und betrachtete ebenfalls das Bild von Gregor. Was dachte sie jetzt bloß? Erkannte sie ihn? Oder tat sie einfach dasselbe wie sie? Dann erschien ein leichtes Lächeln in Amelias Gesicht. Aber ihr Blick lag nicht mehr auf der Fotografie, sondern davor, an einem Ort, zu dem wohl nur Amelia Zugang hatte.
Lore umarmte ihre Schwester. Weder eine Annahme noch eine Ablehnung dieser Geste wurde ihr entgegengebracht. Wann hatte sie jemanden das letzte Mal in die Arme genommen? Oder andere körperliche Berührungen? Jetzt lehnte Lore sanft ihren Kopf an die Schulter ihrer Schwester, und so etwas wie Frieden breitete sich in ihr aus. Obwohl es Lore ungerecht erschien, wollte sie diese Nähe auskosten.
Am Bahnsteig der S-Bahnstation setzte sich Lore auf eine Bank.
Neben ihr rubbelte eine Frau mit einer Münze die Oberfläche eines Loses frei. Nachdem sie damit fertig war, warf sie das wertlose Stück Papier in den Mistkübel.
Nie hatte sich Lore eine dieser leeren Versprechungen gekauft, nicht einmal während ihrer Arbeitslosigkeit.
Vor dem Zugfenster war das Stadtbild einer offenen Bauweise gewichen. Das Grün bewirtschafteter Flächen drang zwischen die Wohnblocks. Die dichte Verbauung einer Kleingartensiedlung zog vorbei. Ein kleines Haus hatte sich Lore immer gewünscht. Jetzt war sie froh, eine Dreizimmergemeindewohnung zu haben, draußen in einer der Stadtrandsiedlungen der Achtzigerjahre, in denen niemand freiwillig wohnen will.
Der Waggon war nur mäßig von Fahrgästen belegt. Schräg gegenüber, in der anderen Sitzreihe, fiel ihr Blick auf eine etwa zwanzigjährige Frau. Sie trug Ohrhörer, deren Kabel zu ihrem iPhone im Schoß liefen. Neben ihr saß ein Mann, der kaum älter schien und aus dem Fenster blickte. Mit einem Mal füllten sich die Augen der jungen Frau mit Tränen, die ihr schließlich über die Wangen liefen und die sie ohne Eile und Scham mit einem Finger wegwischte. Dies wiederholte sich ein paar Mal. Ob ihre Gefühlsregung auf die Musik zurückzuführen war, die sie hörte? Plötzlich brach es heftig aus ihr hervor. Ihr Mund öffnete sich wie zu einem stummen, entsetzten Schrei, als müsse sich ein Schmerz Luft verschaffen, während die Tränen wie ein Sturzbach über ihre Wangen liefen. Sie hob ihre Hand, legte sie über ihren geöffneten Mund, als könnte sie damit dieses Aufwallen in Bann halten. Der junge Mann neben ihr blieb über diesen tonlosen Ausbruch unberührt. Er schien diesem Geschehen nicht auszuweichen, es war einfach ungewiss, ob er es überhaupt wahrnahm. Schließlich fing sich die junge Frau wieder, ihre Gefühlsregung verebbte und ihr Gesicht entspannte sich. Bei der nächsten Haltestelle stieg sie aus.
Am Weg nach Hause ging Lore das Bild der weinenden jungen Frau nicht mehr aus dem Kopf. Was hatte sie so sehr bewegt, dass es ihr nicht einmal etwas ausmachte, von den anderen Fahrgästen gesehen zu werden?
Sie sperrte die Wohnungstür auf. Stille erfüllte die Räume. Aus Severins Zimmer drang Licht. Er saß vor seinem Laptop, hatte Kopfhörer auf und sah ein Youtubevideo.
– Hi! rief Lore laut.
Ohne vom Video aufzublicken, hob Severin grüßend seine Hand.
Am Küchentisch ein benutzter, leerer Teller. Dass er es nie schafft, dachte sie, und legte den Teller in das Spülbecken.
Dann zog sie ihre Uniform aus und begab sich unter die Dusche.
Sie ließ lange das warme Wasser über ihren Körper laufen. Trotz seiner Widrigkeiten hatte sie dieser Tag auf eigenartige Weise gestärkt.
Die Dämmerung zog über die Stadt. Von ihrem Fenster aus wirkten die Häuser bereits weit entfernt. Unten breitete sich das dunkle Feld eines Ackers aus, an dessen Ende alte Wohnwagen und ein ausrangierter Linienbus in einem Kreis aufgestellt waren, als wollten sie ein kleines Dorf bilden. Manchmal spazierte sie dort vorbei und Hunde fingen dann zu bellen an. Dieser abgeschiedene Ort machte ihr immer ein wenig Angst. Erst einmal hatte sie einen jungen Mann mit Rastalocken ein Wagenfenster öffnen gesehen. Er hatte sie trotz der großen Entfernung freundlich gegrüßt.
Jetzt brannte in einem der Wagenfenster ein Licht. Für das nächste Mal nahm sie sich vor, den jungen Mann anzusprechen. Sie wird ihn fragen, wie es sich unter so einfachen Bedingungen leben lässt.
Lore fühlte sich müde, aber es war eine angenehme Müdigkeit, nicht die nach dem stundenlagen Abgehen parkender Autos. Sie setzte sich vor den Fernseher. Ihre Füße legte sie auf den alten Fauteuil. Sie zappte durch die Programme und blieb bei einem Film, der nach einem Krimi aussah, hängen.
Wie nebenbei hörte sie in der Küche das Laufen der Mikrowelle.
Mit einer noch heißen Packung Popcorn kam Severin, setzte sich neben Lore auf die Couch und legte auch seine Füße auf den Fauteuil. Mit einer kleinen Handbewegung hielt er ihr die Packung entgegen.
Die Story des Films kam langsam in Schwung.
Abwechselnd griffen beide nach dem Popcorn.